Das
Märchen vom alten Mann, der sich eigentlich nur Independence Day zu
Ende ansehen wollte
Es war einmal ein alter Mann, der lebte in einer großen Stadt und
ging nur noch selten aus seiner Wohnung hinaus. Den größten Teil
des Tages verbrachte er vor dem Fernseher, den sein Sohn ihm zusammen
mit einem Premiere-Decoder geschenkt hatte, damit er sich nicht
so viel um seinen Vater kümmern mußte.
Eines
Tages begab es sich nun, daß der Mann - es war mitten in einer Wiederholung
von Independence Day - ein gräßliches Getöse hörte. Das ganze Haus
erzitterte, die Wände wackelten und die Fensterscheiben klirrten.
Ei,
dachte sich da der Mann, das war ja ein Effekt, da bin ich aber
beeindruckt, und sah weiter fern. Kurz darauf jedoch klopfte es
an der Tür. Wer mag das sein, fragte sich der Mann und tat die Tür
auf.
Sein Sohn war´s, der draußen stand mit seinem Weib und ihren zwei
Kindern. "Vater!" rief der Sohn, "ihr müßt mit uns kommen, denn
ein schrecklich Ding ist geschehen. Wir müssen fliehen, wenn wir
unser nacktes Leben retten wollen."
"Ach was", sprach der alte Mann, "nichts wird so heiß gegessen,
wie es gekocht wird. Kommt rein, pflanzt euch aufs Sofa, macht euch
´nen Tee, ich guck eben noch Independence Day zu Ende, dann bin
ich bei euch." Er ging rasch zurück zu seinem Fernsehsessel, um
nicht mehr als nötig vom Film zu verpassen.
Sein Sohn aber folgte ihm in heller Aufregung. "Vater", rief er,
"versteht doch, die Stadt ist von einem Schwarm gar riesenhaft gräßlicher
Heuschrecken angegriffen worden. Sie lassen keinen Stein auf dem
anderen. Wir müssen um unser Leben laufen."
"Paperlapapp", versetzte der Alte, "ich bin in meinem Leben schon
mit ganz anderen Viechern fertiggeworden. Hol Sonja und die Kinder
rein. Im Kühlschrank müsste noch ein Bier sein, das kannste haben,
wenn du willst."
"Opa", rief die vierjährige Enkelin, "guck mal, Opa, ich bin eine
Riesenheuschrecke!" Sie hüpfte mit großen Sätzen ins Zimmer, gefolgt
von ihrer Mutter und dem älteren Bruder, die letzteren allerdings
nicht mit großen Sätzen hüpfend.
"Gevatterchen", sagte die Frau, "kommt mit uns, sonst wird es ein
übles Ende mit Euch nehmen." Ihre letzten Worte gingen unter in
einem Donnerschlag. Eine Staubwolke kam aus dem Flur ins Wohnzimmer
geschossen.
"Auweia", sprach der Alte, "das wird die gute Frau aus dem Dachgeschoß
sein, die sieht schlecht und fällt zuweilen die Treppe hinunter.
Wollen wir mal hoffen, daß sie sich nichts gebrochen hat."
"Meiner Treu", rief sein Sohn, als er einen Blick aus der Wohnungstür
geworfen hatte, "das Treppenhaus ist fort. Wir sitzen fest."
"Was seid ihr denn so wahnsinnig hektisch heute", erwiderte der
Großvater, "mein Film ist doch gleich zu Ende, da müsst ihr euch
doch nicht so aufregen, Kinder."
"Vater", brüllte sein Sohn und packte ihn bei den Jackenaufschlägen,
"Vater, wir müssen fliehen! Wir werden alle elendiglich zugrunde
gehen!"
"Okay", entgegnete der Alte, "kannst mich wieder loslassen. Reg
dich ab. Bitte, wenn ihr wirklich schon wieder gehen wollt, obwohl
ihr gerade erst gekommen seid, dann nehmt doch einfach den Hinterausgang.
Flur, letzte Tür links, momentan steht, glaube ich, der Staubsauger
noch davor." Das Haus erzitterte, das Fernsehbild erzitterte ebenfalls
und verlosch dann.
"Komm", sagte die Frau leise zu ihrem Mann, "laß uns abhauen, so
lange das Haus noch steht. Soll dieser senile Idiot doch sitzen,
wo er sitzt. Offensichtlich fühlt er sich da sehr wohl."
"Na hör mal", erwiderte der Mann, "dieser senile Idiot ist immerhin
mein Vater. Wo ist er eigentlich?" Der Alte war in der Küche verschwunden
und wühlte dort in einem Pappkarton herum, den er aus der Speisekammer
hervorgezogen hatte. "Komm jetzt", sagte sein Sohn, packte ihn bei
der Hand und zog ihn mit sich.
"Du
rast wieder wie ein Blöder", beschwerte sich der Alte, als sein
Sohn in halsbrecherischem Tempo um Trümmerstücke herumkurvte. Um
sie herum brachen reihenweise Häuser in sich zusammen, doch das
merkte man vor allem daran, daß ständig der Boden erzitterte, denn
zu sehen war nicht viel. Die Luft war voller grauem Staub.
Sie gelangten auf eine freie Strecke, und der Vater gab Gas.
Doch schon eine Viertelstunde später, sie waren gerade aus der Stadt
heraus, war die Fahrt wieder zu Ende. Quer über der Straße lag ein
riesiges Insekt, groß wie ein Reisebus. Und eben als der Vater den
Rückwärtsgang eingelegt hatte, krachte hinter ihnen noch eins auf
die Straße.
"Ich muß mal", sagte Isabel, das Enkelkind.
"Da weiß ich Abhilfe", erwiderte der Großvater, nahm beide Kinder
bei der Hand und stieg aus dem Wagen. Die drei hatten sich erst
einige Schritte vom Auto entfernt, als ein drittes Insekt vom Himmel
fiel und das Auto unter sich zermalmte. Der Boden erzitterte, Glassplitter
regneten herab, dann züngelte eine Flamme unter der toten Heuschrecke
hervor, und die plattgedrückten Überreste des Autos gingen in Flammen
auf.
"Kinder, Kinder", sagte der alte Mann, "wer hätte das gedacht. Jetzt
machen wir heute noch einen Ausflug in den Wald. Ist das nicht toll."
Er vergewisserte sich, daß die Dose Insektenspray, die er von zuhause
noch mitgenommen hatte, sicher verstaut war, nahm dann die Kinder
bei der Hand und verschwand zwischen den Bäumen.
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