Warum läuft Herr V. Amok?

- Würde es Ihnen etwas ausmachen, sagt Heinrich V. und klopft dem Mann, der vor ihm sitzt, auf die Schulter - Ihren Hut abzunehmen?
- Allerdings, sagt der Vordermann, ohne sich umzudrehen. Ich bin Fassbinder-Imitator. Ohne diesen Hut kann ich den Film unmöglich genießen. Auf der Leinwand erscheint das 20th-Century-Fox-Symbol.
- In einem Jahr müssen die sich auch einen anderen Namen ausdenken, spricht Heinrichs Gattin, die neben ihm sitzt. Sie sagt das jedesmal, wenn sie einen Fox-Film sieht.
- Nein, erwidert Heinrich V., in zwei Jahren. Das neue Jahrhundert beginnt erst im Jahre 2001. Aber was im Moment wichtiger ist: ich sehe nichts. Der Herr vor mir nimmt mir mit seinem Hut die Sicht auf die Leinwand.
- Lehn dich doch zu mir herüber, antwortet seine Gattin, dann siehst du was.
- Um Gottes Willen, entgegnet Heinrich V., bloß nicht. Er schweigt, während der Vorspann abläuft, und starrt auf den Hut seines Vordermannes.
- Verzeihung, sagt er dann und tippt dem Hutbesitzer erneut auf die Schulter. Ihr Hut stört mich. Nehmen Sie ihn bitte ab. Und zwar sofort.
- Ich habe es Ihnen doch schon gesagt, erwidert der Mann und dreht sich jetzt doch zu Heinrich V. um. Der Hut bleibt.
- Aber ich sehe nichts, zischt Heinrich.
- Na und, sagt der Mann, steht auf und kniet sich verkehrt herum auf seinen Sitz, so daß er jetzt unmittelbar vor Heinrich V. aufragt.
- Sie setzten sich jetzt sofort wieder hin! ruft Heinrich.
- Sehen Sie, sagt der Mann, es ist zum Genuß dieses Films völlig unerheblich, ob man ihn sieht oder nicht. Hauptsache, man trägt einen Hut, wie Fassbinder ihn trug. Das gilt für alle Fassbinderfilme. Ich werde in dieser Position bleiben und statt dem Film Sie betrachten.
- Hören Sie mal, das ist kein Faßbinderfilm, sagt Heinrich V., das ist Alien V. Sie sind im falschen Film.
- Quatsch, erwidert der Mann mit Hut, das ist Angst essen Seele auf. Wenn hier einer im falschen Film ist, dann Sie.
- Ruhe da vorne! ruft jemand aus der letzten Reihe.
- Selber Ruhe, ruft der Mann mit dem Hut zurück. Wer sich im Kino in die letzte Reihe setzt, kann genausogut zuhause bleiben und fernsehen, klar? Also, Schnauze!
- Aber da, sagt Heinrich und lehnt sich weit zur Seite, weg von seiner Gattin - sehen Sie, da ist schon das Monster.
Auf der Leinwand ist eine festlich gedeckte Tafel zu sehen, an der eine fein gekleidete Festgesellschaft Platz genommen hat. Soeben wird eine gigantische Terrine hereingetragen, und ein Mann im dunklen Anzug, offensichtlich der Gastgeber, schöpft jedem Gast einen Löffel von einer dünnen, gelblichen Suppe auf den Teller. In der Suppe schwimmt für jeden ein bleiches Gebilde mit acht dürren Fingern und einem geschuppten Schwanz.
- Ihr Monster interessiert mich überhaupt nicht, sagt der Mann, der immer noch verkehrtherum auf seinem Kinosessel kniet. Ich sehe es nicht und will es nicht sehen. Ich würde mir diese Fließband-Fortsetzung niemals antun.
Er hebt seinen Hut, holt einen Hamburger darunter hervor und beginnt ihn zu essen. Als er ihn zur Hälfte aufgegessen hat, wirft er den Rest im hohen Bogen hinter sich, mitten auf die Leinwand. Heinrichs Gattin stößt einen Schrei der Empörung aus. Der Schrei bricht jedoch abrupt ab, als der Hamburger auf dem Teller eines der Festgäste auf der Leinwand landet und von diesem ohne sonderliche Regung verspeist wird.
- Nein, ruft Heinrich V., das ist mir endgültig zu absurd. Ich will keine Hamburger sehen, die vom Publikum in den Film katapultiert werden. Ich bin ins Kino gegangen, um mir mit meiner Gattin in Ruhe Alien V anzusehen. Das V bedeutet übrigens in diesem Fall die Zahl fünf, im Gegensatz zu meinem Nachnamen, der Vogler lautet und ebenfalls mit V abgekürzt wird.
- Sie halten sich also für Heinrich den Fünften, soso, sagt der Mann mit dem Hut. Soll ich Ihnen mal sagen, wo Sie meiner Meinung nach hingehören?
- Sie gehören auf Ihren Sitz, ruft Heinrich, aber sofort. Faßbinder-Imitator, daß ich nicht lache. Und nehmen Sie gefälligst diesen dämlichen Hut ab!
- Fassbinder, erwidert der Mann, schreibt man mit zwei s, nicht mit scharfem eszett. Aber bitte, das mit dem Hamburger war wohl zuviel für Ihr beschränktes Fassungsvermögen. Ich nehme es zurück.
Auf der Leinwand wird der Hauptgang serviert. Zwei Bedienstete tragen auf einer gut meterlangen Platte den langgestreckten Kopf eines Ungeheuers herein. Zwischen die fingerlangen Fangzähne des Mauls ist ein Apfel geklemmt. Der Gastgeber erhebt sich und schneidet mit einem langen Messer große Stücke aus dem gebratenen Kopf heraus, die er auf die Teller der Anwesenden verteilt. Plötzlich springt einer der Gäste auf und hält sich mit schmerzverzerrtem Blick die Hand vor die Brust. Er krümmt sich schreiend hintenüber, und dann bricht aus seinem Brustkorb ein halber Hamburger hervor und fliegt frontal in den Zuschauerraum.
- Na also, sagt der Mann und fängt den Hamburger mit seinem Hut auf. Zufrieden? Er setzt sich den Hut wieder auf den Kopf.
- Igitt, sagt Heinrichs Gattin, Sie Schwein. Kein Wunder, daß sie so fettige Haare haben.
- Ich sagte doch, erwidert der Mann, ich bin Fassbinder-Imitator.
- Ruhe, brüllt Heinrich, verdammt nochmal, runter mit dem Hut, ich will jetzt diesen Film genießen! Ich will die fabelhaften Computertricks bewundern und das unerreicht schreckenerregende Design der Monster, ich will voller Spannung mit den Helden mitfiebern und den unter die Haut gehenden Soundtrack in voller Qualität erleben. Lassen Sie mir doch dieses unschuldige Vergnügen!
- Aber, erwidert der Mann, da hat man Sie aber falsch informiert. In Angst essen Seele auf gibt es keine Monster. Allenfalls Brigitte Mira.
- Verdammt nochmal, schnaubt Heinrich V., das reicht langsam. Ich möchte endlich Amok laufen.
- Sie fallen aus der Rolle, entgegnet der Mann, ohne sich umzudrehen.
- Jawohl! ruft Heinrich, das ist episches Theater, Brecht, V-Effekt. Habe ich auf der Volkshochschule gelernt. Davon abgesehen schlage ich Ihnen jetzt eins auf den Hut. Er holt aus und läßt seine geballte Faust auf den Kopf des Mannes niedersausen.
- O weh, erwidert der Mann, jetzt wird von meinem Hamburger nicht mehr viel übrig sein. Gestatten Sie, daß ich zurückschlage? Er platziert seine Faust in Heinrichs Magengrube. Heinrich V. sinkt daraufhin in seinem Sessel zusammen und schnappt nach Luft.
- Kommen Sie, ruft der Mann und fuchtelt mit den Händen, fechten wir es aus. Wenn Sie gewinnen, dann läuft heute meinetwegen Alien V, wenn ich gewinne, läuft Angst essen Seele auf. Und wenn Sie kneifen, gewinne ich. Einverstanden?
- Nein, ächzt Heinrich. Ich protestiere gegen diese Form der Gewaltverherrlichung.
- Ach was, ruft der Mann, protestieren Sie doch lieber gegen den Sexismus des Textes, gegen die lächerliche Statistenrolle, mit der man Ihre Gattin bisher abgespeist hat. Hohe Dame, würden Sie mir die ganz besondere Ehre erweisen und unseren bescheidenen Waffengang als Schiedsrichterin überwachen?
- Heinrich, sagt Heinrichs Gattin, komm, wir gehen.
- Kommt nicht in Frage, röchelt Heinrich, ich habe Eintritt bezahlt und will den Film jetzt sehen. Und zwar mit Gewaltverherrlichung auf der Leinwand, nicht hier im Saal.
- Na gut, sagt der Mann, Sie kneifen, ich gewinne. Sehen Sie, ich glaube, der Vorführer hat gerade seinen Irrtum bemerkt und wechselt jetzt anscheinend die Rolle. Die Leinwand wird dunkel und wieder hell. Ein neuer Film beginnt zu laufen.
- Wahrscheinlich, sagt der Mann mit dem Hut, werden die Farben etwas ausgebleicht sein im Lauf der Zeit. Aber das wird meinen Fassbinder-Genuß nicht mindern.
- Oh nein, brüllt Heinrich, oh nein. Nein Nein Nein! Er hechtet über die Sitzreihe nach vorne, packt den Mann am Kragen und geht mit ihm zu Boden. Der Hut fällt hinab und rollt davon.
Im gleichen Moment ist der Mann verschwunden.
- Das ist ein Tarnhut, sagt eine Stimme aus dem Nirgendwo. Wenn man ihn absetzt, wird man unsichtbar. Ich bin nämlich in Wirklichkeit gar kein Fassbinder-Imitator. Ich wollte nur vermeiden, daß jemand sich auf mich draufsetzt. Sie können gar nicht ermessen, welch ein Dilemma jeder Gang ins Kino für mich bedeutet, ganz zu schweigen vom Friseurbesuch.
- Sie haben den Hut schon zweimal abgesetzt, kreischt Heinrich, und ich habe Sie immer noch gesehen!
- Ihr Problem, erwidert die Stimme. Auf Wiedersehen.
Das ist nicht wahr, brüllt Heinrich, das ist erstunken und erlogen.
Er springt in die Höhe und zertrampelt den Sessel, vor dem er gerade steht. Dann rupft er eine eiserne Sprungfeder aus den Polstern, springt quer über die Sitzreihen nach vorne und reißt die untere Hälfte der Leinwand in Fetzen, zerrt drei Lautsprecherboxen von den Wänden, demoliert zweiundzwanzig weitere Sessel, zerschlägt die Glasscheibe zum Vorführraum und ist gerade dabei, mit einem Stück des abgerissenen Vorhangs den Kronleuchter von der Decke zu reißen, als fünf Männer in Uniformen den Saal betreten.
- Angeblich, sagte einer von ihnen zum Vorführer, der aus seiner Kabine gelaufen kommt, angeblich randaliert hier jemand, der sich für Heinrich den Fünften hält. Ist das richtig?
Man ließ Heinrich V. ins Röhrchen blasen, entnahm eine Blutprobe und sperrte ihn in eine Ausnüchterungszelle. Aufgrund eines Eindrucks allgemeiner Verwirrung überstellte man ihn dann zur Beobachtung ins Bezirkskrankenhaus. Noch in dieser Zeit reichte sein Arbeitgeber die Kündigung und seine Gattin die Scheidung ein. Heinrich V. wurde vor Gericht gestellt und zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Seine Gattin heiratete bald darauf einen anderen. Sie beabsichtigte zumindest die Heirat, aber weder die standesamtliche noch die kirchliche Trauung fanden statt, da ihr Auserwählter seinen Hut nicht abnehmen wollte. Unter diesen Umständen weigerten sich sowohl der Standesbeamte als auch der Geistliche, die Trauung zu vollziehen. Heinrich V. jedoch setzte sich in eine U-Bahn-Unterführung, erzählte seine Geschichte allen, die sie hören wollten, und gelangte auf diese Weise mit der Zeit zu einer gewissen lokalen Bekanntheit.