Oliver Gorf – Beijing  

 

- 11. März 2006

1. Nach drei Tagen ohne Feuchtigkeit schneit es nun. Schnee aus dem siebten Stock betrachtet hat eine ganz andere Schönheit als im Parterre. Leider erkennt man auch seine Ausmaße besser in Weite und Breite. Unten, wo die Häuser die Perspektive begrenzen, kläffen zwei Köter, und Kinder schreien dazu. Nicht anfeuernd, nicht einhaltend, nicht ängstlich, nur schreiend. Glaube ich. Aber wer weiß, was Schreien auf Chinesisch bedeutet. Lediglich eine Milliarde Chinesen und ein paar weitere Auserwählte. Ich nicht.

2. Armut reproduziert Armut reproduziert Unglück.

In China ist die Ziffer 4 die Große Unglückbringende. Man meidet sie besser und kapriziert sich auf ihr Doppeltes. Mit 8 wird gelacht. Hier gilt nicht: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Hier gilt: Geteilte Freud ist volles Leid. Ob die 2 wiederum potenziertes Glück bedeutet, kann ich nicht beantworten. Sicher ist nur, dass sich dieser Glaube seinen Weg in die Moderne längst gefräst hat. Er steht auf der sicheren Seite; was man von diversen Hutongs nicht behaupten kann, alte, sinnliche, engmaschige, wahrscheinlich komplett verdreckte und durchrattete Zonen, übervölkerte, schlecht durchschau- und überwachbare Parterre-only-Häuseransammlungen, mit denen man als rechtschaffener Kommunist nur unzufrieden sein kann (kein siebter Stock!, kein Überblick nirgendwo!), zumal, wenn man in engster Nachbarschaft die herrlich freizügigen, panzerdurchlässigen Mega-Boulevards zum Vergleich vor die Nase betoniert bekommen hat, auf deren anliegenden Prachtbauten die roten Fahnen so eindrucksvoll flattern (auch im Schnee), und Mao auf durchaus angemessenen More-Than-Real-Size-Postern herablächelt, zur Freude der Touristen aus allen Provinzen und auch einiger Herren-Länder, tschuldigung: Herren Länder.

Die Hutongs sollen möglichst abgerissen und total modern neu errichtet werden, höher, weiter, wahrscheinlich mit gutem Blick – auf 2008. Dann ist hier OLYMPIADE, und dieses Datum taugt ganz offensichtlich zum Eckpfeiler der Großen Chineschischen Revolutionsgeschichte wie in jüngster Zeit nur noch das Jahr 1989, als der Himmlische Frieden ausbrach, dem bekanntlich ein ziemlich hartes Jüngstes Gericht vorausgeht, das die Bösen in die Hölle/Fegefeuer praktiziert, in diesem Fall nach New York. Dorthin hat es zumindest viele Künstler verschlagen im Jahre 1989, und die Kunstwelt ist so ziemlich die einzige Verbindung, die ich zu dieser fremden Stadt habe, doch wollen wir jetzt nicht privat werden. Das Jüngste Gericht, tagend zu Peking, hatte jedenfalls die Hölle/Fegefeuer nach New York verlegt, und nun wissen wir auch, dass natürlich die Roten daran schuld waren, dass ein Zwillingspaar im Land der Freien unterging. Manchmal kann Opium auch den härtesten Materialisten berauschen, Marx.

Doch jetzt kommt ja 2008, OLYMPIA, und wer glaubt, die „WM im eigenen Land“ sei ein Hype, der wende seinen Blick gen Osten. Nur soviel: Die Modefarbe 2008 wird Rot sein, und das Paradies wird kommunistisch regiert werden. Denn: In 2008 steckt eine 8 und keine 4! Und auch keine verwässernden ungeraden Zahlen wie die doppelte 9 in 1989. Plus 1. Und das ist gut so! Wie ich aus eigener Erfahrung begründen kann.

Dies ist passiert: Ich habe mir eine SIM-Karte gekauft, um in der Stadt des Handy-Booms billig kommunizieren zu können. Ich durfte unter ganz ganz vielen Nummern eine auswählen (was mich in China vom Analphabeten oder dem Legastheniker unterscheidet, sind die arabischen Zahlen. Wären die auch noch chinesisch, bräuchte die Allesverzehrerin Globalisierung wohl weitaus stärkere Zähne, um diesen Milliardenbrocken weichzukauen.) Es fiel mir bald auf, dass die Nummern unterschiedliche Preise hatten. Die eine Sorte Nummern zu 10 Yüan, die andere zu 58 (to be divided by ten). Ich wunderte mich, aber mein Chinesch ist noch nicht gut genug, um den Grund zu erfragen. Ich kombinierte: In den teuren Zahlen war keine 4. In den billigen durchaus. Armut reproduziert Armut reproduziert Unglück. Da kennen auch mobile phones nix.

Ich nahm eine billige Nummer, so bin ich eben. Ich hatte einen Tag lang keinen Empfang.

3. Der Blizzard ist vorbei, die Trockenheit der Luft fordert ihr Recht wieder ein. Für mich ist es Zeit, ein Taxi zu nehmen. Das tut man hier, es ist wirklich billig und praktisch. Aber ich mag es nicht. Ich habe mir am ersten Tag ein, wie ich nun weiß völlig überteuertes, Rad gekauft, und fahre damit durch den Smog. Wenn der Bus vor dir anfährt, bekommst du mehr Teer eingetrichtert als in fünf Wochen PTG (aber wir wollen nicht privat werden). Fahrradfahren in Peking ist wirklich geil. Das Taxi brauche ich aber, um mein Fahrrad abzuholen. Es steht zur Zeit in einer sogenannten Embassy area, die so wirkt, wie sie klingt. Dort finden sich die expatriates zusammen, um über China zu reden und dabei sich selbst zu meinen, oder umgekehrt. Dort haben wir gestern jemand getroffen und dort haben wir gegessen, über China und andere Fremden gesprochen, über uns und andere. Sehr fein, sehr gediegen, fast wie in Barcelona, oder Mailand, oder München. Dort steht jetzt mein Rad. Das Haus hatte die Nummer 4.

 

- 12. März 2006

Nach einem ausgiebigen touristischen Programm saß ich plötzlich in einer Parfümerieabteilung zwei Frauen mit metallischer Niere unter dem jeweils linken Auge gegenüber. Zunächst war ich sehr verdattert. Aber dann verstand ich. Es kann nun einmal passieren, dass das Raum-Zeit-Kontinuum einen Riss bekommt, dass Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft an einem einzigen Ort zusammentreffen. Captain Picard und die anderen haben es uns gelehrt.

Die Vergangenheit hatten wir gerade verfrühstückt: die Verbotene Stadt. Errichtet im 15. Jahrhundert u. Z., diente sie den Kaisern der Ming- und der Quing-Dynastien bis 1911 als Zentrum ihrer Macht. J. empfand die Architektur mit den weiten Exerzierplätzen als faschistisch, ich nannte sie etwas genereller imperialistisch; eine Bauweise, die ihre Entsprechung in den Mega-Boulevards rund um den Tianmen-Platz findet, wo das Imperium der Zukunft angekündigt wird: jenes des neuen Menschen als Resultat laaaaaaaanger Märsche.

In der Verbotenen Stadt erhielt das Raum-Zeit-Kontinuum seinen ersten Knacks. Das Imperium der Gegenwart schlug ein: die Macht der Bilder. Ich habe nur die Trailer für ihren China-Film gesehen, und doch war neben J. auch Jodie Foster meine ständige, verhasste Begleiterin auf dem Gang durch vorrevolutionäre Zeiten. Wie manipuliert wir sind.

Erst nach meiner Schrecksekunde in der Parfümeriebateilung verstand ich, dass alles Sinn machte. In dieser Umgebung machte es Sinn, Jodie Foster als Begleiterin zu haben und Nieren in Gesichtern zu sehen: ich SAH den Menschen der Zukunft im Imperium der Zukunft, in seinem futuristischsten Enterieur, denn moderne Parfümerieabteilungen westlichen Stils sind gleißend strahlende Zukunftsverheißungen in Raumschiffbrückenästhetik inmitten der Provinzialität von Unterwäscheverkäufern und Käseabteilungen.

Ich verstand: Diese nierenbestückten Frauen waren Prototypen. Chinesische Menschenentwickler hatten dem Vorbild von Seven-of-Nine nachgebildet, dem attraktivsten Beispiel des neuen Menschen aus dem StarTrek-Universum, von dem jeder gute Kommunist chinesischer Abkunft träumt: mit individualistischen Prägungen aus ihrer Zeit als alter Mensch (Liberallismus), aufgetunt mit rein kollektivistischen Denkweisen durch die Borg (Kommunismus); durchaus ein menschlicher Körper (alter Mensch), aber erheblich funktionsverbessert durch implantierte Technologie (die Evolutionsstufe zum künstlichen Menschen endlich! erreicht).

Dieses Amalgam aus Alt und Neu treibt die ganze chinesische Gesellschaft an, immer mit Blick auf den Endsieg, die wirklich kommunistische Gesellschaft. Sie machen das sehr geschickt hier. Die eingeführten ökonomischen Freiheiten produzieren eine für die Revolution nötige Verelendung des Proletariats (80 Prozent der Chinesen leben auf dem Land und vegetieren bei Einkommen zwischen 30 und 100 $ für eine Familie), während in Metropolen wie Peking oder Schanghai gerne mal 800 $ und i.d.R. mehr verdient wird. Die Spannungen im Lande steigen. 80 000 lokale Aufstände allein im Jahr 2005 u. Z. zeugen vom Erfolg der Strategie. Die weisen Parteiführer aller Provinzen auf dem nahe der Verbotenen Stadt gegenwärtig stattfindenden Parteikongress dürfen sich beglückwünschen.

Die Zukunft saß mir in der Hauptstadt des künftigen Imperiums gegenüber, während J. Creme auf eine Hand geschmiert bekam. Die Zukunft war weiblich. Sie sah aus wie Seven-of-Nine. Die Parfümerie war die Brücke der Enterprise. Das Raum-Zeit-Kontinuum renkte sich langsam wieder ein. Die Gegenwart kam immer näher, der neue Mensch verbarg sich wieder hinter der Verkäuferin. Ich machte ein schnelles Foto.

P.S.: Während ich das schreibe, spielt hinter mir die Klimaanlage verrückt. Ihr Ausgang ist übrigens ein simples Loch in der Wand. Und im Badezimmer klingt die Waschmaschine, als klatsche die Brandung des Meeres an die Küste. Wenn das Raum-Zeit-Kontinuum nicht gerade spinnt, ist die Zukunft so unklar wie ein Foto von ihr.

 

- 13. März 2006

Wir besuchten eine Moschee, die aussah wie ein buddhistischer Tempel, und einen buddhistischen Tempel, der genauso aussah. Auf dem Fußweg zwischen den beiden heiligen Stätten fanden wir ein Fenster, das gänzlich von einem Aquarium ausgefüllt war, in dem Fische um einen feixenden Konfuzius schwammen.

Die Poesie des Augenblicks. Der Rest ist Schweigen.

 

- 14. März 2006

Endlich ist es warm. Wärme ist für einen Touristen beinah wichtiger als für den Einheimischen. Ich nutzte den Tag gut. Fuhr mit dem Rad eine halbe Stunde zur ersten U-Bahn-Station in unserer Nähe und betrat erstmals die Metro. Voll, aber nicht japanisch voll. Nach etwa einer Stunde war ich am Westrand Pekings und vielleicht schon ein bisschen darüber hinaus: im Vorgebirge. Dort gab es einen verlassenen jahrhundertealten Friedhof für verdiente Eunuchen (wirklich!), der dank der Frühlingsatmosphäre und seiner Abgeschiedenheit an nicht so eunuchenhaftes denken ließ – und es gab einen sehr alten buddhistischen Tempel mit herausragenden Wandmalereien, die sich laut Werbung und tatsächlich mit der Malerei der Renaissance messen lassen können. Das Problem: dieser Teil des Tempels ist bis auf wenige einfließende Sonnenstrahlen dunkelst, man muss die Wände mit ausgehändigten Leuchten abtasten, ein Seherlebnis, über das ich mich für 20 Euro geärgert hätte, für 2 Euro aber genießen konnte und Geschmack daran gewinnen (auch ich ein Mensch am „Ende der alten Ordnung“, käuflich, verroht, einsam).

Die warme Waldatmosphäre rund um den einsamen, abgelegenen Fahai-Tempel, beschloss ich, war der richtige Ort, die „Elementarteilchen“ zu beenden, gesteht ihr Autor doch dem Buddhismus als einziger Religion eine Art Daseinsberechtigung im Zeitalter des Klons zu. Und während Michel im Meer versinkt und der andere Michel einen derart perfekten Klon erfindet, dass es schon wieder lächerlich wird, und während Bruno in der Anstalt die schöne neue Welt erlebt, sitze ich auf meiner Anhöhe vor dem Tempel und höre chinesische Megafon-Botschaften aus dem Dorf da unten. „Er unternahm lange versonnene Spaziergänge auf der Sky Road, ohne bestimmtes Ziel, in Gesellschaft des Himmels“. Zitatende.

- 15. März 2006

Gestern nacht wurde mein Fahrrad gestohlen, mein Fahrrad!, mit dem sich Peking so gut durchstreifen lässt. Mit dem die Rush-Hour am Abend zur Freude wird. Weg. Ich fürchte fast, ich bin nun traumatisiert. Nicht, weil das Rad gestohlen wurde (das ist eigentlich sogar gut, denn es beweist wieder einmal, dass die Menschen überall gleich sind, selbst diejenigen chinesischer Bauart, die oberflächlich betrachtet so friedlich wirken, als könnten Folter und Genozide nur weitere Mythen in dieser legendenreichen Region sein; und ich glaube, das ist es, was ich mir vom Reisen erhoffe: das Erlebnis der Gleichheit, um auf dieser Basis die Unterschiede genießen zu können), sondern weil es mir die Bewegungsfreiheit nimmt. Nun bin ich auf ein Taxi angewiesen, das mich durch den dichten Verkehr zur Dongzhimen-Busstation schiebt, wo ich den 916er nehme, um die Stadt in nordöstlicher Richtung zu verlassen. Das Ziel, ein Mythos, ein Must: Die Mauer, in Deutschland „chinesische“ genannt, was sich hier erübrigt und deshalb „große“ heißt.

Nach etwa zwei Stunden Fahrt inklusive Gefährtwechsels und dem global üblichen Interested-Economy-Student-in-the-countryside-Abwimmelns stehe ich vor ihr, besser: unter ihr, was in anderem Zusammenhang nicht halb so anstrengend ist wie in diesem, denn es bedeutet a) T-Shirt-Verkäufer abwimmeln (globales Phänomen), b) eine halbe Stunde lang steile Treppen steigen (durchaus lokales Phänomen).

Dann stehe ich nassgeschwitzt auf ihr (Abschnitt Mitanyu). Grandiose Blicke ins Gebirge, noch mehr Treppen, diesmal auf der Mauer – und ein Staunen. Die Schlange Mauer windet sich über wirklich jede der vielen Gebirgsketten, alle paar Meter ein Posten. Immer besser gewöhnt sich der Blick an den weiten Horizont, immer mehr Türme und Mauerwindungen schälen sich aus dem Himmelsblau, immer mehr, immer mehr, darunter das Grün der Wälder und einige Häuser, von allem immer mehr. Absurd, ich muss lachen.

Solch eine Gewaltigkeit kann nur einer Gesellschaft gelingen, die an eine stabile Welt glaubt. Wer könnte solch einen Grenzzaun errichten, der nicht glaubte, der Mittelpunkt der Erde zu sein? So gesehen war die verhältnismäßig mickrige Berliner Mauer vielleicht eher unbewusstes Eingeständnis des historisch Vorläufigen seiner Gesellschaftsformation denn Ausdruck einer Zukunftsplanung. So gesehen drückt die sprichwörtliche Zeitlichkeit der Pekinger Baubetrieberzeugnisse aus, dass der Kommunismus der Moderne verstanden hat. Er täuscht auch neoarchitektonisch keine Stabilität vor, meidet die Fehler seiner europäischen Cousins und setzt auf einen Phönix-Zyklus von Zerfall und Aufbau (die neue U-Bahnlinie, die gerade für Olympia 2008 gebaut wird, dürfte nach Architektenmeinung maximal 20 Jahre halten, dafür hat es aber schon zwei Einstürze während der Bauarbeiten gegeben). Diese Denke hat mehr mit Permanenter Revolution zu tun als sein Pendant in Kuba.

Stabiltät ist auch das, womit Houllebeques Michel die Welt revolutioniert: Stabilität des Geklonten. Fazit im Buch: Die Geklonten sind die besseren Menschen. Spätestens auf der Chinesischen Mauer aber wird es wieder greifbar: Stabilität ist instabil. Und auf der Schwelle zum Zeitalter des Künstlichen Menschen befinden wir uns im Verhältnis zu unseren Möglichkeiten auf dem Vorstellungsniveau einer stratifikatorischen Gesellschaft und damit genug von Houllebeque, der brillant die in der Luft liegenden Themen romanisiert hat und über den sich nur Feuillonisten und andere Religiöse aufregen können). Und der Islamismus wird im Rückblick als das letzte Aufbäumen seiner Stabilitäts-Gläubigen gegen seine Säkularisierung (islamische Aufklärung unter den Bedingungen der Globalisierung!) erkannt werden. Und... Besser, ich trink hier oben noch ein Bier in der Sonne und gehe dann wieder runter.

Die Große Mauer ist das einzige Bauwerk, das vom All aus erkennbar ist. Ob G2 mich sieht?

Nicht sieht er mich in einem der Entspannungsräume einer koreanischen Sauna, wo eine Kubanerin (J.), drei Chinesinnen, ein Chinese und ein Deutscher (ich) um 12 Uhr Mitternacht in einem Halbkreis auf Liegen liegen, eingetaucht in ein überraschend schönes gelbgrünes Kunstlicht, mit Blick auf einen Kunstbaum, dessen Krone uns ein Dach liefert, welches das Hausdach verdeckt, und in dessen Zweigen eine Klimaanlage eingezwängt ist. Wir tragen sauneneigene Pyjamas und alle die gleichen papiernen Unterhosen (Foto).

Unsere chinesischen FreundInnen heben alle vier zugleich ihre glimmenden Zigaretten ins Kunstlicht und in die Kunstluft. Auf der anderen Seite des Baumstamms flackert lautlos ein Fernseher. Ich fühle mich sauwohl.

- 16. März 2006

1. 10.00 Uhr aufstehen, 13.00 Uhr Internet-Cafe, 15.00 Uhr 1 km Fußweg zum Art District; trinken, lesen, gucken; Idylle bei 20 Grad Celsius. Trügerisch? Immerhin sitze ich in einem Zentrum potenziellen Ungehorsams in einem Militärstaat.
Eine französisch-britische Künstlerin, die in an einer englischen Schule in Peking unterrichtet: „If they want, they can easily bring down the whole area in one day. This happens all the time. I know companies which open offices, knowing that they will be closed down by officials soon. Then they will move to another space. Maybe they are only waiting for the time after the Olympic Games. Or until this year´s artfestival is over. A two-street-ensemble of private galleries and studios is not worth a hurdle in the masterplan of the leaders of the nation”.

„Die Polizei ist kein Problem“, sagt eine hiesige Galeristin und Künstlerin. Vor jedem Hochhaus in Peking stehen Uniformierte.

Jeder Ausländer muss seine Wohnung bei der Polizei melden. J. arbeitet in Peking nicht offiziell. Ihre Visa-Verlängerung kann ein Problem werden. Ihre Galeristin muss noch diesen Monat nach Berlin, damit sie noch ein Jahr unbehelligt als Studentin China verlassen kann. Privatunternehmer from abroad brauchen einen einheimischen Mitmacher. Irgendwo lauert der Staat.

2. Vielleicht ein Gleichnis dazu, angeregt durch eine Arbeit aus der (noch nicht eröffneten) Ausstellung „Each – Other“ von Kang Jianfei und Liu Wentao.

Ein großformatiges Bild, das unbestimmte Himmel-Meer-Stimmung zeigt. Davor eine Skulptur: Ein kleiner Mann steht auf einer sehr viel größeren Faust und schaut auf das Bild: in die Weite. China meets Caspar David Friedrich. Dem kleinen Mann steht die Welt offen. Aber er ist gebunden an die mächtige Faust. Ihrer Höhe verdankt er die Sicht – und ihrer Gnade sein Leben. Ein falscher Schritt, und die Faust könnte sich öffnen, er würde in ihr Gefängnis rutschen und von ihr zerquetscht. Oder der Schritt tritt in den Abgrund. Futsch, austauschbarer Chinese! Von dir haben wir noch genügend andere! The fucking fist rules, even if gently.

3. Theorie der Wirtschaftsgeschichte: Kapitalismus braucht starken Staat und verbindliche Regeln, um in die Gänge zu kommen. If not: Karikaturen wie in den Subsahara-Staaten (mein ewiger Bezugspunkt), wo u.a. tribale Prioritäten und Korruption auf neoliberale Diktate des Westens prallen, um Perspektivlosigkeit und Brutalität zu vertiefen. Gegenbeispiel: ausgerechnet Südafrika, das bereits in der Apartheid seine Prosperität Bodenschätzen, starkem Staat und rassistischen, im abstrakten Sinne verbindlichen Regeln verdankte. Da liegt China mit seinen Bodenschätzen, seinem starken Staat und Gesetzen gut im Rennen. Der Kapitalismus ist eben pervers, wie auch immer man ihn betrachtet. Es wird sich nun eben beweisen müssen, ob die Faust schrumpft, der Mann wächst, Handel eben Wandel bringt. Wenn man bedenkt, dass ich vor 15 Jahren gegen VW in China protestiert habe.

4. Bildet Reisen eigentlich oder verblödet es? Der Tourist steht vor dem weiten Fremden, ganz klein, und irgendwann schlagen die Eindrücke mit starker Faust zu und verderben einem auch noch das schönste Weltbild. Gerade betritt ein Bettler das Internet-Cafe. Drei Kellner stürzen sich auf ihn. Raus! Ich tippe die Nasten und nippe den Tee.

5. 18.30 Uhr J. abholen. Wir wollen in die Peking-Oper. Wir haben die falschen Anfangszeiten.

- 17. März 2006

Business-Talk (Hörbeispiele; belauscht)

DEUTSCHER VON SIEMENS (in deutschem Englisch: have=heff; this=siss, etc): We heff pipelines. Oil-pipelines everywhere. China, Kasachstan, and here in this region. And this is your job. (…) Sis is very very difficult. Ja? Very difficult.

POTENZIELLER CHINESISCHER MITMACHER: A lot of travelling.

DEUTSCHER VON SIEMENS: Not travelling. Not travelling. Travelling is easy. Travelling is easy.

POTENZIELLER CHINESISCHER MITMACHER: lacht verlegen.

(...)

DEUTSCHER VON SIEMENS: Siemens is sales-leader. Not region. Forget region. You understand? Sales Leader, not region. Ja? Understood difference? So. And we have also regions, ja?

POTENZIELLER CHINESISCHER MITMACHER: nickt und lächelt

DEUTSCHER VON SIEMENS: My task is to bring sem togesser. Because when we have a customer, he wants sis, sis, sis, I heff to bring sett, sett, sett. Understand?

(...)

DEUTSCHER VON SIEMENS: Here you heff nassing (nothing), only your brain, hier (points to his bold head). You heff to be very flexibell. You heff not to be very angry wiss politicians. Sis is normal. You heff to be very very flexibell. So. (Nächste Folie) Our job is to convince se sale. If not, forget it. My target is to convince se sale.

(…)

DEUTSCHER VON SIEMENS: You want number of X?

POTENZIELLER CHINESISCHER MITMACHER: Not yet. I write you.

DEUTSCHER VON SIEMENS: Ist auch besser so.

Small-Talk (belauscht)

CHINESISCHE BEGLEITERIN DES DEUTSCHEN SAMMLERS: My parents saved a lot for me. They could have had a nice life with travelling and going out and so. But they didn`t. They wanted me to have the chance for a better living. Education…

DEUTSCHER SAMMLER: Yes, yeees. Hm.

Das Tor beginnt sich zu schließen. Übermorgen gehört Beijing wieder denen, die es besser kennen.

Private Talk (geführt)

DEUTSCHER TOURIST: Wie ist die Beziehung zwischen Politik und Gesellschaft?

CHINESISCHE KÜNSTLERIN: Do you like snooker?

- 18. März 2006

Fazit kurz vor dem Abflug:

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