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Oliver Gorf –
Beijing
- 11. März 2006
1. Nach drei Tagen ohne Feuchtigkeit schneit es nun. Schnee aus dem siebten
Stock betrachtet hat eine ganz andere Schönheit als im Parterre. Leider erkennt
man auch seine Ausmaße besser in Weite und Breite. Unten, wo die Häuser
die Perspektive begrenzen, kläffen zwei Köter, und Kinder schreien dazu.
Nicht anfeuernd, nicht einhaltend, nicht ängstlich, nur schreiend. Glaube
ich. Aber wer weiß, was Schreien auf Chinesisch bedeutet. Lediglich eine
Milliarde Chinesen und ein paar weitere Auserwählte. Ich nicht.
2. Armut reproduziert Armut reproduziert Unglück.
In China ist die Ziffer 4 die Große Unglückbringende. Man meidet
sie besser und kapriziert sich auf ihr Doppeltes. Mit 8 wird gelacht. Hier gilt
nicht: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Hier gilt: Geteilte Freud ist volles Leid.
Ob die 2 wiederum potenziertes Glück bedeutet, kann ich nicht beantworten.
Sicher ist nur, dass sich dieser Glaube seinen Weg in die Moderne längst
gefräst hat. Er steht auf der sicheren Seite; was man von diversen Hutongs
nicht behaupten kann, alte, sinnliche, engmaschige, wahrscheinlich komplett verdreckte
und durchrattete Zonen, übervölkerte, schlecht durchschau- und überwachbare
Parterre-only-Häuseransammlungen, mit denen man als rechtschaffener Kommunist
nur unzufrieden sein kann (kein siebter Stock!, kein Überblick nirgendwo!),
zumal, wenn man in engster Nachbarschaft die herrlich freizügigen, panzerdurchlässigen
Mega-Boulevards zum Vergleich vor die Nase betoniert bekommen hat, auf deren anliegenden
Prachtbauten die roten Fahnen so eindrucksvoll flattern (auch im Schnee), und
Mao auf durchaus angemessenen More-Than-Real-Size-Postern herablächelt, zur
Freude der Touristen aus allen Provinzen und auch einiger Herren-Länder,
tschuldigung: Herren Länder.
Die Hutongs sollen möglichst abgerissen und total modern neu errichtet
werden, höher, weiter, wahrscheinlich mit gutem Blick – auf 2008. Dann
ist hier OLYMPIADE, und dieses Datum taugt ganz offensichtlich zum Eckpfeiler
der Großen Chineschischen Revolutionsgeschichte wie in jüngster Zeit
nur noch das Jahr 1989, als der Himmlische Frieden ausbrach, dem bekanntlich ein
ziemlich hartes Jüngstes Gericht vorausgeht, das die Bösen in die Hölle/Fegefeuer
praktiziert, in diesem Fall nach New York. Dorthin hat es zumindest viele Künstler
verschlagen im Jahre 1989, und die Kunstwelt ist so ziemlich die einzige Verbindung,
die ich zu dieser fremden Stadt habe, doch wollen wir jetzt nicht privat werden.
Das Jüngste Gericht, tagend zu Peking, hatte jedenfalls die Hölle/Fegefeuer
nach New York verlegt, und nun wissen wir auch, dass natürlich die Roten
daran schuld waren, dass ein Zwillingspaar im Land der Freien unterging. Manchmal
kann Opium auch den härtesten Materialisten berauschen, Marx.
Doch jetzt kommt ja 2008, OLYMPIA, und wer glaubt, die „WM im eigenen
Land“ sei ein Hype, der wende seinen Blick gen Osten. Nur soviel: Die Modefarbe
2008 wird Rot sein, und das Paradies wird kommunistisch regiert werden. Denn:
In 2008 steckt eine 8 und keine 4! Und auch keine verwässernden ungeraden
Zahlen wie die doppelte 9 in 1989. Plus 1. Und das ist gut so! Wie ich aus eigener
Erfahrung begründen kann.
Dies
ist passiert: Ich habe mir eine SIM-Karte gekauft, um in der Stadt des Handy-Booms
billig kommunizieren zu können. Ich durfte unter ganz ganz vielen Nummern
eine auswählen (was mich in China vom Analphabeten oder dem Legastheniker
unterscheidet, sind die arabischen Zahlen. Wären die auch noch chinesisch,
bräuchte die Allesverzehrerin Globalisierung wohl weitaus stärkere Zähne,
um diesen Milliardenbrocken weichzukauen.) Es fiel mir bald auf, dass die Nummern
unterschiedliche Preise hatten. Die eine Sorte Nummern zu 10 Yüan, die andere
zu 58 (to be divided by ten). Ich wunderte mich, aber mein Chinesch ist noch nicht
gut genug, um den Grund zu erfragen. Ich kombinierte: In den teuren Zahlen war
keine 4. In den billigen durchaus. Armut reproduziert Armut reproduziert Unglück.
Da kennen auch mobile phones nix.
Ich nahm eine billige Nummer, so bin ich eben. Ich hatte einen Tag lang keinen
Empfang.
3. Der Blizzard ist vorbei, die Trockenheit der Luft fordert ihr Recht wieder
ein. Für mich ist es Zeit, ein Taxi zu nehmen. Das tut man hier, es ist wirklich
billig und praktisch. Aber ich mag es nicht. Ich habe mir am ersten Tag ein, wie
ich nun weiß völlig überteuertes, Rad gekauft, und fahre damit
durch den Smog. Wenn der Bus vor dir anfährt, bekommst du mehr Teer eingetrichtert
als in fünf Wochen PTG (aber wir wollen nicht privat werden). Fahrradfahren
in Peking ist wirklich geil. Das Taxi brauche ich aber, um mein Fahrrad abzuholen.
Es steht zur Zeit in einer sogenannten Embassy area, die so wirkt, wie sie klingt.
Dort finden sich die expatriates zusammen, um über China zu reden und dabei
sich selbst zu meinen, oder umgekehrt. Dort haben wir gestern jemand getroffen
und dort haben wir gegessen, über China und andere Fremden gesprochen, über
uns und andere. Sehr fein, sehr gediegen, fast wie in Barcelona, oder Mailand,
oder München. Dort steht jetzt mein Rad. Das Haus hatte die Nummer 4.
- 12. März 2006
Nach einem ausgiebigen touristischen Programm saß ich plötzlich
in einer Parfümerieabteilung zwei Frauen mit metallischer Niere unter dem
jeweils linken Auge gegenüber. Zunächst war ich sehr verdattert. Aber
dann verstand ich. Es kann nun einmal passieren, dass das Raum-Zeit-Kontinuum
einen Riss bekommt, dass Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft an einem einzigen
Ort zusammentreffen. Captain Picard und die anderen haben es uns gelehrt.
Die Vergangenheit hatten wir gerade verfrühstückt: die Verbotene
Stadt. Errichtet im 15. Jahrhundert u. Z., diente sie den Kaisern der Ming- und
der Quing-Dynastien bis 1911 als Zentrum ihrer Macht. J. empfand die Architektur
mit den weiten Exerzierplätzen als faschistisch, ich nannte sie etwas genereller
imperialistisch; eine Bauweise, die ihre Entsprechung in den Mega-Boulevards rund
um den Tianmen-Platz findet, wo das Imperium der Zukunft angekündigt wird:
jenes des neuen Menschen als Resultat laaaaaaaanger Märsche.
In der Verbotenen Stadt erhielt das Raum-Zeit-Kontinuum seinen ersten Knacks.
Das Imperium der Gegenwart schlug ein: die Macht der Bilder. Ich habe nur die
Trailer für ihren China-Film gesehen, und doch war neben J. auch Jodie Foster
meine ständige, verhasste Begleiterin auf dem Gang durch vorrevolutionäre
Zeiten. Wie manipuliert wir sind.
Erst nach meiner Schrecksekunde in der Parfümeriebateilung verstand ich,
dass alles Sinn machte. In dieser Umgebung machte es Sinn, Jodie Foster als Begleiterin
zu haben und Nieren in Gesichtern zu sehen: ich SAH den Menschen der Zukunft im
Imperium der Zukunft, in seinem futuristischsten Enterieur, denn moderne Parfümerieabteilungen
westlichen Stils sind gleißend strahlende Zukunftsverheißungen in
Raumschiffbrückenästhetik inmitten der Provinzialität von Unterwäscheverkäufern
und Käseabteilungen.
Ich
verstand: Diese nierenbestückten Frauen waren Prototypen. Chinesische Menschenentwickler
hatten dem Vorbild von Seven-of-Nine nachgebildet, dem attraktivsten Beispiel
des neuen Menschen aus dem StarTrek-Universum, von dem jeder gute Kommunist chinesischer
Abkunft träumt: mit individualistischen Prägungen aus ihrer Zeit als
alter Mensch (Liberallismus), aufgetunt mit rein kollektivistischen Denkweisen
durch die Borg (Kommunismus); durchaus ein menschlicher Körper (alter Mensch),
aber erheblich funktionsverbessert durch implantierte Technologie (die Evolutionsstufe
zum künstlichen Menschen endlich! erreicht).
Dieses Amalgam aus Alt und Neu treibt die ganze chinesische Gesellschaft an,
immer mit Blick auf den Endsieg, die wirklich kommunistische Gesellschaft. Sie
machen das sehr geschickt hier. Die eingeführten ökonomischen Freiheiten
produzieren eine für die Revolution nötige Verelendung des Proletariats
(80 Prozent der Chinesen leben auf dem Land und vegetieren bei Einkommen zwischen
30 und 100 $ für eine Familie), während in Metropolen wie Peking oder
Schanghai gerne mal 800 $ und i.d.R. mehr verdient wird. Die Spannungen im Lande
steigen. 80 000 lokale Aufstände allein im Jahr 2005 u. Z. zeugen vom Erfolg
der Strategie. Die weisen Parteiführer aller Provinzen auf dem nahe der Verbotenen
Stadt gegenwärtig stattfindenden Parteikongress dürfen sich beglückwünschen.
Die Zukunft saß mir in der Hauptstadt des künftigen Imperiums gegenüber,
während J. Creme auf eine Hand geschmiert bekam. Die Zukunft war weiblich.
Sie sah aus wie Seven-of-Nine. Die Parfümerie war die Brücke der Enterprise.
Das Raum-Zeit-Kontinuum renkte sich langsam wieder ein. Die Gegenwart kam immer
näher, der neue Mensch verbarg sich wieder hinter der Verkäuferin. Ich
machte ein schnelles Foto.
P.S.: Während ich das schreibe, spielt hinter mir die Klimaanlage verrückt.
Ihr Ausgang ist übrigens ein simples Loch in der Wand. Und im Badezimmer
klingt die Waschmaschine, als klatsche die Brandung des Meeres an die Küste.
Wenn das Raum-Zeit-Kontinuum nicht gerade spinnt, ist die Zukunft so unklar wie
ein Foto von ihr.
- 13. März 2006
Wir besuchten eine Moschee, die aussah wie ein buddhistischer Tempel, und
einen buddhistischen Tempel, der genauso aussah. Auf dem Fußweg zwischen
den beiden heiligen Stätten fanden wir ein Fenster, das gänzlich von
einem Aquarium ausgefüllt war, in dem Fische um einen feixenden Konfuzius
schwammen.
Die Poesie des Augenblicks. Der Rest ist Schweigen.
- 14. März 2006
Endlich ist es warm. Wärme ist für einen Touristen beinah wichtiger
als für den Einheimischen. Ich nutzte den Tag gut. Fuhr mit dem Rad eine
halbe Stunde zur ersten U-Bahn-Station in unserer Nähe und betrat erstmals
die Metro. Voll, aber nicht japanisch voll. Nach etwa einer Stunde war ich am
Westrand Pekings und vielleicht schon ein bisschen darüber hinaus: im Vorgebirge.
Dort gab es einen verlassenen jahrhundertealten Friedhof für verdiente Eunuchen
(wirklich!), der dank der Frühlingsatmosphäre und seiner Abgeschiedenheit
an nicht so eunuchenhaftes denken ließ – und es gab einen sehr alten
buddhistischen Tempel mit herausragenden Wandmalereien, die sich laut Werbung
und tatsächlich
mit der Malerei der Renaissance messen lassen können. Das Problem: dieser
Teil des Tempels ist bis auf wenige einfließende Sonnenstrahlen dunkelst,
man muss die Wände mit ausgehändigten Leuchten abtasten, ein Seherlebnis,
über das ich mich für 20 Euro geärgert hätte, für 2 Euro
aber genießen konnte und Geschmack daran gewinnen (auch ich ein Mensch am
„Ende der alten Ordnung“, käuflich, verroht, einsam).
Die warme Waldatmosphäre rund um den einsamen, abgelegenen Fahai-Tempel,
beschloss ich, war der richtige Ort, die „Elementarteilchen“ zu beenden,
gesteht ihr Autor doch dem Buddhismus als einziger Religion eine Art Daseinsberechtigung
im Zeitalter des Klons zu. Und während Michel im Meer versinkt und der andere
Michel einen derart perfekten Klon erfindet, dass es schon wieder lächerlich
wird, und während Bruno in der Anstalt die schöne neue Welt erlebt,
sitze ich auf meiner Anhöhe vor dem Tempel und höre chinesische Megafon-Botschaften
aus dem Dorf da unten. „Er unternahm lange versonnene Spaziergänge
auf der Sky Road, ohne bestimmtes Ziel, in Gesellschaft des Himmels“. Zitatende.
- 15. März 2006
Gestern nacht wurde mein Fahrrad gestohlen, mein Fahrrad!, mit dem sich Peking
so gut durchstreifen lässt. Mit dem die Rush-Hour am Abend zur Freude wird.
Weg. Ich fürchte fast, ich bin nun traumatisiert. Nicht, weil das Rad gestohlen
wurde (das ist eigentlich sogar gut, denn es beweist wieder einmal, dass die Menschen
überall gleich sind, selbst diejenigen chinesischer Bauart, die oberflächlich
betrachtet so friedlich wirken, als könnten Folter und Genozide nur weitere
Mythen in dieser legendenreichen Region sein; und ich glaube, das ist es, was
ich mir vom Reisen erhoffe: das Erlebnis der Gleichheit, um auf dieser Basis die
Unterschiede genießen zu können), sondern weil es mir die Bewegungsfreiheit
nimmt. Nun bin ich auf ein Taxi angewiesen, das mich durch den dichten Verkehr
zur Dongzhimen-Busstation schiebt, wo ich den 916er nehme, um die Stadt in nordöstlicher
Richtung zu verlassen. Das Ziel, ein Mythos, ein Must: Die Mauer, in Deutschland
„chinesische“ genannt, was sich hier erübrigt und deshalb „große“
heißt.
Nach
etwa zwei Stunden Fahrt inklusive Gefährtwechsels und dem global üblichen
Interested-Economy-Student-in-the-countryside-Abwimmelns stehe ich vor ihr, besser:
unter ihr, was in anderem Zusammenhang nicht halb so anstrengend ist wie in diesem,
denn es bedeutet a) T-Shirt-Verkäufer abwimmeln (globales Phänomen),
b) eine halbe Stunde lang steile Treppen steigen (durchaus lokales Phänomen).
Dann stehe ich nassgeschwitzt auf ihr (Abschnitt Mitanyu). Grandiose Blicke
ins Gebirge, noch mehr Treppen, diesmal auf der Mauer – und ein Staunen.
Die Schlange Mauer windet sich über wirklich jede der vielen Gebirgsketten,
alle paar Meter ein Posten. Immer besser gewöhnt sich der Blick an den weiten
Horizont, immer mehr Türme und Mauerwindungen schälen sich aus dem Himmelsblau,
immer mehr, immer mehr, darunter das Grün der Wälder und einige Häuser,
von allem immer mehr. Absurd, ich muss lachen.
Solch eine Gewaltigkeit kann nur einer Gesellschaft gelingen, die an eine
stabile Welt glaubt. Wer könnte solch einen Grenzzaun errichten, der nicht
glaubte, der Mittelpunkt der Erde zu sein? So gesehen war die verhältnismäßig
mickrige Berliner Mauer vielleicht eher unbewusstes Eingeständnis des historisch
Vorläufigen seiner Gesellschaftsformation denn Ausdruck einer Zukunftsplanung.
So gesehen drückt die sprichwörtliche Zeitlichkeit der Pekinger Baubetrieberzeugnisse
aus, dass der Kommunismus der Moderne verstanden hat. Er täuscht auch neoarchitektonisch
keine Stabilität vor, meidet die Fehler seiner europäischen Cousins
und setzt auf einen Phönix-Zyklus von Zerfall und Aufbau (die neue U-Bahnlinie,
die gerade für Olympia 2008 gebaut wird, dürfte nach Architektenmeinung
maximal 20 Jahre halten, dafür hat es aber schon zwei Einstürze während
der Bauarbeiten gegeben). Diese Denke hat mehr mit Permanenter Revolution zu tun
als sein Pendant in Kuba.
Stabiltät ist auch das, womit Houllebeques Michel die Welt revolutioniert:
Stabilität des Geklonten. Fazit im Buch: Die Geklonten sind die besseren
Menschen. Spätestens auf der Chinesischen Mauer aber wird es wieder greifbar:
Stabilität ist instabil. Und auf der Schwelle zum Zeitalter des Künstlichen
Menschen befinden wir uns im Verhältnis zu unseren Möglichkeiten auf
dem Vorstellungsniveau einer stratifikatorischen Gesellschaft und damit genug
von Houllebeque, der brillant die in der Luft liegenden Themen romanisiert hat
und über den sich nur Feuillonisten und andere Religiöse aufregen können).
Und der Islamismus wird im Rückblick als das letzte Aufbäumen seiner
Stabilitäts-Gläubigen gegen seine Säkularisierung (islamische Aufklärung
unter den Bedingungen der Globalisierung!) erkannt werden. Und... Besser, ich
trink hier oben noch ein Bier in der Sonne und gehe dann wieder runter.
Die Große Mauer ist das einzige Bauwerk, das vom All aus erkennbar ist.
Ob G2 mich sieht?
Nicht sieht er mich in einem der Entspannungsräume einer koreanischen
Sauna, wo eine Kubanerin (J.), drei Chinesinnen, ein Chinese und ein Deutscher
(ich) um 12 Uhr Mitternacht in einem Halbkreis auf Liegen liegen, eingetaucht
in ein überraschend schönes gelbgrünes Kunstlicht, mit Blick auf
einen Kunstbaum, dessen Krone uns ein Dach liefert, welches das Hausdach verdeckt,
und in dessen Zweigen eine Klimaanlage eingezwängt ist. Wir tragen sauneneigene
Pyjamas und alle die gleichen papiernen Unterhosen (Foto).
Unsere chinesischen FreundInnen heben alle vier zugleich ihre glimmenden Zigaretten
ins Kunstlicht und in die Kunstluft. Auf der anderen Seite des Baumstamms flackert
lautlos ein Fernseher. Ich fühle mich sauwohl.
- 16. März 2006
1. 10.00 Uhr aufstehen, 13.00 Uhr Internet-Cafe, 15.00 Uhr 1 km Fußweg
zum Art District; trinken, lesen, gucken; Idylle bei 20 Grad Celsius. Trügerisch?
Immerhin sitze ich in einem Zentrum potenziellen Ungehorsams in einem Militärstaat.
Eine französisch-britische Künstlerin, die in an einer englischen Schule
in Peking unterrichtet: „If they want, they can easily bring down the whole
area in one day. This happens all the time. I know companies which open offices,
knowing that they will be closed down by officials soon. Then they will move to
another space. Maybe they are only waiting for the time after the Olympic Games.
Or until this year´s artfestival is over. A two-street-ensemble of private
galleries and studios is not worth a hurdle in the masterplan of the leaders of
the nation”.
„Die Polizei ist kein Problem“, sagt eine hiesige Galeristin und
Künstlerin. Vor jedem Hochhaus in Peking stehen Uniformierte.
Jeder Ausländer muss seine Wohnung bei der Polizei melden. J. arbeitet
in Peking nicht offiziell. Ihre Visa-Verlängerung kann ein Problem werden.
Ihre Galeristin muss noch diesen Monat nach Berlin, damit sie noch ein Jahr unbehelligt
als Studentin China verlassen kann. Privatunternehmer from abroad brauchen einen
einheimischen Mitmacher. Irgendwo lauert der Staat.
2. Vielleicht ein Gleichnis dazu, angeregt durch eine Arbeit aus der (noch
nicht eröffneten) Ausstellung „Each – Other“ von Kang Jianfei
und Liu Wentao.
Ein
großformatiges Bild, das unbestimmte Himmel-Meer-Stimmung zeigt. Davor eine
Skulptur: Ein kleiner Mann steht auf einer sehr viel größeren Faust
und schaut auf das Bild: in die Weite. China meets Caspar David Friedrich. Dem
kleinen Mann steht die Welt offen. Aber er ist gebunden an die mächtige Faust.
Ihrer Höhe verdankt er die Sicht – und ihrer Gnade sein Leben. Ein
falscher Schritt, und die Faust könnte sich öffnen, er würde in
ihr Gefängnis rutschen und von ihr zerquetscht. Oder der Schritt tritt in
den Abgrund. Futsch, austauschbarer Chinese! Von dir haben wir noch genügend
andere! The fucking fist rules, even if gently.
3. Theorie der Wirtschaftsgeschichte: Kapitalismus braucht starken Staat und
verbindliche Regeln, um in die Gänge zu kommen. If not: Karikaturen wie in
den Subsahara-Staaten (mein ewiger Bezugspunkt), wo u.a. tribale Prioritäten
und Korruption auf neoliberale Diktate des Westens prallen, um Perspektivlosigkeit
und Brutalität zu vertiefen. Gegenbeispiel: ausgerechnet Südafrika,
das bereits in der Apartheid seine Prosperität Bodenschätzen, starkem
Staat und rassistischen, im abstrakten Sinne verbindlichen Regeln verdankte. Da
liegt China mit seinen Bodenschätzen, seinem starken Staat und Gesetzen gut
im Rennen. Der Kapitalismus ist eben pervers, wie auch immer man ihn betrachtet.
Es wird sich nun eben beweisen müssen, ob die Faust schrumpft, der Mann wächst,
Handel eben Wandel bringt. Wenn man bedenkt, dass ich vor 15 Jahren gegen VW in
China protestiert habe.
4. Bildet Reisen eigentlich oder verblödet es? Der Tourist steht vor
dem weiten Fremden, ganz klein, und irgendwann schlagen die Eindrücke mit
starker Faust zu und verderben einem auch noch das schönste Weltbild. Gerade
betritt ein Bettler das Internet-Cafe. Drei Kellner stürzen sich auf ihn.
Raus! Ich tippe die Nasten und nippe den Tee.
5. 18.30 Uhr J. abholen. Wir wollen in die Peking-Oper. Wir haben die falschen
Anfangszeiten.
- 17. März 2006
Business-Talk (Hörbeispiele; belauscht)
DEUTSCHER VON SIEMENS (in deutschem Englisch: have=heff; this=siss, etc):
We heff pipelines. Oil-pipelines everywhere. China, Kasachstan, and here in this
region. And this is your job. (…) Sis is very very difficult. Ja? Very difficult.
POTENZIELLER CHINESISCHER MITMACHER: A lot of travelling.
DEUTSCHER VON SIEMENS: Not travelling. Not travelling. Travelling is easy.
Travelling is easy.
POTENZIELLER CHINESISCHER MITMACHER: lacht verlegen.
(...)
DEUTSCHER VON SIEMENS: Siemens is sales-leader. Not region. Forget region.
You understand? Sales Leader, not region. Ja? Understood difference? So. And we
have also regions, ja?
POTENZIELLER CHINESISCHER MITMACHER: nickt und lächelt
DEUTSCHER
VON SIEMENS: My task is to bring sem togesser. Because when we have a customer,
he wants sis, sis, sis, I heff to bring sett, sett, sett. Understand?
(...)
DEUTSCHER VON SIEMENS: Here you heff nassing (nothing), only your brain, hier
(points to his bold head). You heff to be very flexibell. You heff not to be very
angry wiss politicians. Sis is normal. You heff to be very very flexibell. So.
(Nächste Folie) Our job is to convince se sale. If not, forget it. My target
is to convince se sale.
(…)
DEUTSCHER VON SIEMENS: You want number of X?
POTENZIELLER CHINESISCHER MITMACHER: Not yet. I write you.
DEUTSCHER VON SIEMENS: Ist auch besser so.
Small-Talk (belauscht)
CHINESISCHE BEGLEITERIN DES DEUTSCHEN SAMMLERS: My parents saved a lot for
me. They could have had a nice life with travelling and going out and so. But they
didn`t. They wanted me to have the chance for a better living. Education…
DEUTSCHER SAMMLER: Yes, yeees. Hm.
Das Tor beginnt sich zu schließen. Übermorgen gehört Beijing
wieder denen, die es besser kennen.
Private Talk (geführt)
DEUTSCHER TOURIST: Wie ist die Beziehung zwischen Politik und Gesellschaft?
CHINESISCHE KÜNSTLERIN: Do you like snooker?
- 18. März 2006
Fazit kurz vor dem Abflug:
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